Viele haben vermutlich schon auf anderen Kanälen vom Cloverleaf Project gehört, initiiert von einem alten Bekannten in der RISC OS-Szene – zumindest für die, die schon zu Archimedes-Zeiten dabei waren: Stefan Fröhling, früher bekannt für die Entwicklung und den Verkauf des ersten IDE-(Mini-)Podules für Archimedes-Rechner vom A3xx/A4xx bis zum A3000 unter dem Namen „Evolution Computer GmbH“ aus dem schönen Olpe im Sauerland.
Nun wurde der Cloverleaf Kickstarter gestartet, eine klassische „crowdfunding campaign“, die in der RISC OS-Szene für einige Fragezeichen gesorgt hat. Vermutlich auch deshalb, weil die Kampagne sehr viele Dinge auf einmal versucht zu tun – ich will versuchen, hier ein wenig Kontext zu liefern zur Herangehensweise von Cloverleaf, den Chancen, den Risiken und den Unklarheiten.
Stefan Fröhling war lange Zeit in der Szene nicht aktiv, grob hat er rund 20 Jahre ausgesetzt, zwischen 1998 und 2018, also „Ende Acorn“ bis „RISC OS unter Apache-Lizenz freigegeben“. So eine lange Abwesenheit hat Vor- und Nachteile. Auf jeden Fall den Vorteil, nicht allzu viel historischen Ballast mitzubringen und zudem als aktiver Nutzer anderer Computersysteme und Betriebssysteme eine Idee davon zu haben, was heutzutage ein RISC OS-Neueinsteiger von einem Betriebssystem erwartet. Auf jeden Fall ist es aber auch von Nachteil, die diversen Befindlichkeiten innerhalb der RISC OS-Szene nicht so genau zu kennen. RISC OS ist ja tendenziell eher ein Einzelkämpfer-Biotop denn eine Community, die an einem Strang zieht, und die Nutzerschar ist klein, meinungsstark und sehr divers. Divers bezogen auf die Ansprüche – den einen kann die Modernisierung des OS nicht schnell genug gehen, die anderen beschwören die Wichtigkeit der heiligen Rückwärtskompatibilität und des „Anderssein“ gegenüber anderen Betriebssystemen. Wer bei Erscheinen des „Style Guide“ zu RISC OS 3 damals mitverfolgt hat, wie der Wechsel von Select-Copy-Move zu Cut-Copy-Paste als Paradigma der Blockoperationen heiß diskutiert wurde, wird wissen was ich meine. Oder hat vielleicht jemand noch Lust auf eine wochenlange Diskussion über Vor- und Nachteile von kooperativem Multitasking gegenüber präemptivem Multitasking? Ich bin sicher, auf Google Groups finden sich noch die Threads aus dem Usenet, comp.sys.acorn.* war damals viel frequentiert, lange bevor diese neumodischen „Webforen“ auftauchten.
Und da sind wir schon bei einem wichtigen Punkt der Cloverleaf-Idee: Stefan geht aus von den Bedürfnissen eines RISC OS-Neueinsteigers und hat sich überlegt, was denn in und um RISC OS fehlt, um zumindest vom Prinzip her ein OS bereitzustellen, das nicht schon kurz nach dem Erstkontakt als „nice try“ wieder in der Schublade verschwindet. Und dass das ein tatsächliches Problem darstellt, sieht man ja am Ausbleiben des dramatischen Nutzeranstiegs nach Verfügbarkeit der Raspberry-Pi-Version von RISC OS. Kostenlos verfügbar für Millionen von RPi-Besitzern und -Nutzern, aber kaum jemand nimmt von RISC OS Notiz.
Und so gibt es (mindestens) vier Zielrichtungen des Cloverleaf-Projektes, die m.E. unglücklicherweise alle in derselben Crowdfunding-Kampagne gelandet sind: 1. Die Weiterentwicklung von RISC OS an den diversen neuralgischen Punkten. Diese sind leider zahlreich: WLAN, IPv6, USB3, Bluetooth, UTF-8, Internationalisierung, Cacheing, Dateisystem (Partitionierung, Fremddateisysteme wie exFat und ext2/3), Multi-Core-Unterstützung und natives Multithreading, Security-Features, Prozessisolation, moderne Fontformate, Unterstützung solch schnöder Hardware wie aktuelle Drucker…die Liste ist endlos. 2. Die Bereitstellung neuer Hardware, auf der RISC OS läuft. Das „Kitten“-System ist noch einfach in Reichweite, ist es doch schlicht ein Raspberry Pi 4 in einem schicken Gehäuse. Bei Puma, Laptop und All-in-one-System sieht es aber schon anders aus: auf Basis eines Rockchip-SoCs, dazu noch mit Mali-GPU, das ist um zwei bis drei Größenordnungen anspruchsvoller. 3. Die Bereitstellung von Software, damit zumindest für den „normalen“ Benutzer keine allzu großen Lücken bestehen in dem, was man so täglich nutzt. Und das beginnt beim modernen Browser und hört bei der Office-Suite und einer Bildverarbeitungssoftware noch lange nicht auf. Selbst in Bereichen, wo RISC OS Mitte bis Ende der 90er noch recht gut aufgestellt war – Musik, E-Mail, DTP – gibt es heute entsetzliche Lücken. 4. Die Bereitstellung einer „Cloverleaf RISC OS-Distribution“ für alle RISC OS-Systeme vom Emulator (RPCEmu) bis zum Raspberry Pi.
Die ganze Kickstarter-Beschreibung liest sich wie ein Wunschzettel, der herauskommt, wenn man 100 RISC OS-Benutzer fragt, was ihres Erachtens das größte Problem der Plattform ist. Die Kickstarter-Kampagne läuft damit Gefahr, es allen recht machen zu wollen. Kein Fokus. All things for all people. Keine klare Message, keine klaren Ziele.
Es soll das niemand falsch verstehen. Alle diese Ziele sind valide. Sie werden gebraucht. Sie müssen umgesetzt werden. RISC OS hat eine Menge aufzuholen gegenüber anderen Betriebssystemen, und die genannten Dinge sind nur ein Anfang. Aber die Frage ist: kann man eine solche Diversität an Zielen sinnvoll und klar kommunizieren? Das Feedback sagt m.E. eher: nein, es ist zu komplex, es ist zu erklärungsbedürftig, es ist zu unübersichtlich. Schon das Feedback in Richtung „warum werden dort Sachen verkauft, die doch eigentlich kostenlos sind“ zeigt das Problem. Oder die Frage, ob es dann ein „Cloverleaf RISC OS“ gibt als Fork des altbekannten „RISC OS 5“. Oder die Frage, ob die angedachte Multi-Core-Unterstützung in Konkurrenz zu den bisherigen Bemühungen von Jeffrey Lee stehen (Antwort: nein, es SIND die Bemühungen von Jeffrey Lee, die im Rahmen der Cloverleaf-Ziele direkt verwendet werden sollen!). Oder die Frage, warum man 300€ für einen RPi 4 im schicken Gehäuse zahlen soll (Antwort: es ist Crowdfunding um RISC OS weiterzuentwickeln, nicht ein schnöder Hardware-Verkauf!).
Aus meiner Sicht war es höchste Zeit, dass jemand die RISC OS-Szene mit neuen Ideen aufmischt. Stefan verwendet hier einen eher managementorientierten Ansatz, was ihn deutlich vom „üblichen“, eher ingenieurs-bis-bedenkenträgerischen RISC OS-Ansatz abhebt, und vermutlich eckt er deshalb auch öfter mal an oder kann sein Anliegen nicht so klar und trotzdem diplomatisch formulieren, dass es breit verstanden wird. Stefan hat erkannt: um in endlicher Zeit Nägel mit Köpfen machen zu können, braucht es neue Leute. Neue Entwickler und neue User. Am einfachsten findet man neue User, wenn man ihnen interessante Produkte anbietet oder mindestens in Aussicht stellt. Am einfachsten findet man z.B. Entwickler, wenn man ihnen Geld bezahlt. Heraus kam mit ChatCube eine RISC OS-Anwendung, die von Entwicklern geschrieben wurden, die völlig ohne RISC OS-Vorkenntnisse an die Sache herangegangen sind. Es ist der Beweis, dass die Herangehensweise funktioniert. Ob sie auch für das OS selbst funktioniert, bleibt abzuwarten. Und ob am Ende die Bemühungen in einen signifikanten Anstieg an RISC OS-Nutzern münden – schön wäre es. Aber wetten würde ich nicht drauf. Seit Acorn-Zeiten wird versucht, diverse RISC OS-Merkmale zur Besetzung von Nischen gewinnbringend einzusetzen. Besonders erfolgreich war man damit zu keiner Zeit.
Erfrischend finde ich, wie Cloverleaf die „neuen Medien“ für sich nutzt. Ob Facebook-Gruppe oder Kickstarter, oder auch ChatCube als Telegram-Client – da weht gar ein Hauch von Modernität durch die angestaubten RISC OS-Hallen.
Weil ich ein prinzipiell detailversessener Mensch bin, stören mich allerdings auch diverse Kleinigkeiten am Cloverleaf-Auftritt, die aus meiner Sicht unsauber und damit unnötig angreifbar sind. Und für nicht-RISC OS-Experten auch irreführend sein könnten. Zum Beispiel die Screenshot-Seite – wäre hier nicht ein Hinweis vonnöten, dass die dort gezeigte Software teilweise kommerziell und nicht ganz billig ist? „Excellent for Retro Gaming“ – in welcher Hinsicht, außer klassische RISC OS-Spiele, wäre das denn tatsächlich der Fall? Wäre es nicht gut, präzise auszuführen, was denn nun Cloverleaf anschieben und machen will, und was eh schon anderweitig auf dem Weg ist? Wäre es nicht hilfreich, die genaue Position im RISC OS-Universum zwischen beispielsweise RISC OS Open Ltd., RISC OS Developments, R-Comp, Elesar und RISC OS Direct zu definieren? Oder die Liste der „available software“ auf der Kickstarter-Seite – Impression Style als 26bit-Software aufzuführen, die bekanntlich nur unter Aemulor dreht, ist schon etwas verwegen. Dazu der hohe „Rauschanteil“ auf der Kickstarter-Seite – warum die vielen Dinge nennen, die einen Menschen aus der Zielgruppe „neuer potenzieller Benutzer“ überhaupt nicht interessieren oder zumindest gar nichts sagen – PlingStore, Packman, …. Oder warum wird eine mögliche klare Message verwässert durch Nichtigkeiten wie „ein freies Exemplar des Archive-Magazins“ oder „ein Cloverleaf-T-Shirt“ oder „ein RISC OS-Einsteiger-Buch“? Und auch das Loblied auf die RISC OS-Fonttechnologie wirkt doch seltsam aus der Zeit gefallen, haben hier doch alle anderen Plattformen RISC OS schon lange überholt. Seit ungefähr 20 Jahren.
Am Ende überwiegt aber mein Optimismus, dass diese neue Herangehensweise durchaus von Erfolg gekrönt sein kann. Und das Schöne am Crowdfunding ist ja, dass das persönliche Risiko eng begrenzt ist, und trotzdem im Erfolgsfall eine schöne Summe zustande kommen kann, mit der einiges bewegt werden kann. Wie gesagt, die Ziele an sich sind absolut valide. Und deshalb werde auch ich eine der Kickstarter-Optionen von Cloverleaf unterstützen. Ich weiß nur noch nicht welche. Die Timeline halte ich für sehr optimistisch, das ist kaum zu schaffen, egal wieviel Geld man in die Sache investiert – Softwareentwicklung ist nicht beliebig parallelisierbar, und im RISC OS-Universum müssen teilweise erst mal mühsam die Basics geschaffen werden (z.B. Entwicklerwerkzeuge) von einer sehr begrenzt verfügbaren Anzahl von kompetenten Entwicklern, bevor man an andere Aufgaben gehen kann. Und dennoch: ich bleibe optimistisch. Wer es versucht, kann scheitern. Wer es nicht versucht, ist schon gescheitert.
Übrigens ist auch dieser Blogbeitrag ein schönes Beispiel dafür, wie schwierig es ist, komplexe Sachverhalte klar und verständlich zu beschreiben. Beim nochmaligen Durchlesen bleiben dann doch Zweifel…